Dienstag, 18. September 2018

Hasenbrot




Oft steckt sie mit ihren Gedanken in der Vergangenheit fest. Und oft, viel zu oft, eigentlich fast immer, sind es traurige Gedanken. Gedanken, die man am liebsten wegwischen möchte, aber sie kommen immer und immer wieder.
Aber diese schönen, guten Erinnerungen, sie gibt es auch. Auch wenn sie sehr selten, verschwommen wie im Nebel, auftauchen um gleich wieder zu verschwinden. Doch mit der Zeit hat sie gelernt, diese schönen Gedanken länger festzuhalten.
Dazu gehören definitiv die Erinnerungen an ihren Großvater, der für sie ein ganz besonderer Mensch war. Mit Einfühlungsvermögen, Geduld und Phantasie machte er für sie jede noch so stupide Alltäglichkeit zu einem Abenteuer, zu einem Wunder, zu etwas ganz Besonderem.

Es ist schon so lange her und viele dunkle Löcher liegen zwischen dem Kind sein und dem, was sie heute ist.

In den Ferien war sie sehr oft bei den Großeltern und sie erinnert sich genau, wie aufgeregt sie immer war, wenn sie darauf wartete, dass ihr Opa endlich von der Arbeit kam. Denn sie war etwas ganz Besonderes und deshalb durfte sie auch stets  die hoch verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, seine Arbeitstasche auszupacken.

Neben allerlei Dingen, die sie nicht allzu sehr interessierten, war da auch seine Brotbüchse und sie wusste, dass darin immer noch etwas für sie zu finden ist. Wie war sie jedes Mal aufs Neue gespannt und freute sich riesig, wenn sie das „Hasenbrot“ darin entdeckte. Manchmal war noch ein Apfelstückchen darin zu finden, manchmal tatsächlich sogar ein Bonbon. Oft aber war es nur ein Viertelchen Leberwurstbrot. Aber das machte ihr nichts aus, für sie war es das schönste, leckerste Schnittchen der Welt.
Zusammen mit ihrem Opa verputzte sie die Reste der Brotdose, die sie danach eigenständig abwusch, abtrocknete und der Oma zu Befüllen hinstellte. Ja, nicht jeder durfte an diese Brotdose, sie schon.

Viel später, da war sie schon etwas älter, erklärte Opa ihr auch, warum das Hasenbrot als Hasenbrot bezeichnet wurde. Nachvollziehbar war die Erklärung. Altes, hartes Brot wird noch heute im ländlichen Raum zum Verfüttern aufgehoben, unter anderem eben auch an Kaninchen. Eine Leberwurststulle, die den ganzen Tag in einer Dose vor sich hin dümpelte, war eben nur noch als Viehfutter zu verwerten. Außer jedoch, man macht etwas ganz Besonderes daraus, dann wird das Hasenbrot in Nullkommanichts zu einer unbeschreiblichen Köstlichkeit, viel zu schade, um es an Kaninchen zu verfüttern.

Nun ist sie schon selbst seit Jahren Oma. Wie doch die Zeit vergeht.

Immer, wenn sie an dieses Erlebnis denkt, kommt Traurigkeit in ihr hoch. Traurig ist sie, weil sie ihrem Opa, der mittlerweile verstorben ist, nie sagen konnte, wie sehr seine Art, mit ihr umzugehen, ihr geholfen hat.
Und noch etwas anderes macht sie traurig, denn ihr eigener Sohn hatte nicht die Möglichkeit, diese Großelternerfahrungen machen zu können. Und sie selbst, wie wohl die meisten Eltern, war leider in ihrem Alltagseinerlei so sehr verfangen, dass sie wohl viel zu oft vergessen hat, dass ein Kind auch ab und zu Wunder und Abenteuer benötigt. Eltern hetzen oft nur von einer Pflicht zu nächsten und sie treiben ihre Kinder an, ihnen es gleich zu tun. Nicht mit böser Absicht, nein. Wahrscheinlich nur, weil es oft einfach zu viele Pflichten sind, zu viele Baustellen und weil sie nicht gelernt haben, inne zu halten und den Moment zu genießen.

Sie hat es gelernt, endlich und jetzt als Oma versucht sie, ein wenig des Zaubers ihres Opas an ihren Enkel weiter zu geben. Und das Warten auf das Hasenbrot gehört definitiv dazu.

Ja, nun ist es schon seit ein paar Jahren so, dass ihr Enkel, wenn er seine Großeltern besucht,  auch immer freudig erregt auf Opa wartet, bis er von der Arbeit heim kommt.  Auch wenn in der heutigen Zeit ein Bonbon oder ein Apfelstück oder so eine läppische Bemme nicht mehr so einen Wert haben wie früher, die vor Aufregung leuchtenden Kinderaugen sind dieselben geblieben. Denn eine wichtige Lebensweisheit ist:

„Es kommt im Leben nicht darauf an, was es ist, sondern was man daraus macht!“

Kennt ihr diese Weisheit?, lebt ihr danach? Nein? Sie kann euch nur raten, es zu tun. Ein wenig Zauber im Leben tut allen gut.

Nun ist ihr Enkel schon in die Schule gekommen. Das erste Mal konnte sie ihn von der Schule abholen. Natürlich wurde der Ranzen ausgiebig untersucht. Er zeigte ihr voller Stolz den ganzen Inhalt, alles wurde angeschaut, ausprobiert, erörtert und bewundert.
Bis sie zur Brotdose kamen, beim Öffnen erblickten drei übrig gebliebene Apfelstückchen das Licht der Welt. Sie wurden aufgeteilt und mit Genuss verspeist. 

Und was ihr Blick dann erhaschte, war ein Zauber ganz besondere Art.
Das kleine Patschehändchen ihres Enkels streichelte den Arm seines Opas und die Worte des Kleinen berührten ihr Herz.
Er schaute seinen Opa an und sagte wie ganz nebenbei:
„Opa, jetzt werde ich dir immer ein Hasenbrot mitbringen, wenn ich euch besuchen komme.“

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es ist eine so rührende Geschichte und zeigt mir mal wieder, wie sehr auch ich ab und an die kleinen Dinge im Leben vergessen habe und dachte, dass nur das große zählt. Ich danke dir von Herzen für diese Sensibilisierung

Ekna Nilreb hat gesagt…

Es ist schnell im Alltag vergessen. Schön, wenn wir alle jemanden kennen, der uns wieder dran erinnert 😊

wieder mal ein Bierdeckel ...