Der erste Sonntag im
September. Sonnig, warm und mild ist es, ein traumhaft schönes Wetter und trotz
allem lässt die Natur schon erkennen, dass es wohl der letzte Tag dieser Art in
diesem Jahr sein wird.
Sie haben es sich in
einem Strand-Café an dem See, den sie gerade umradelt haben, gemütlich gemacht
und lassen sich von der Sonne die Nase kitzeln. Es ist still zwischen den
Beiden und auch, wenn Außenstehende dies oft mit ehelichem Desinteresse oder Abgestumpft
sein verwechseln, sie genießen es gemeinsam still zu sein.
Der Latte, der vor ihr
steht, ist kalt. Sie hat ihn schon lauwarm bekommen und sie hasst es, wenn der
Latte nicht heiß serviert wird. Aber sie regt sich nicht mehr darüber auf, für
den nächsten, heiß servierten, Latte in einem anderen Café wird sie dafür umso
dankbarer sein.
Ihr Blick schweift über
den See, beobachtet die mutigen letzten Wasserratten. Sie schaut auf die Boote, welche wie weiße Flecken auf dem
Wasser ausschwärmen und versinkt in den Spuren, die sie in den Wellen
hinterlassen.
Unter ihr auf dem Boden
spürt sie den rieselnden Strandsand, der extra für die Gäste im Außenbereich
aufgeschüttet wurde. Eine Erinnerung kommt in ihr hoch, ein schöne Erinnerung.
Vor Jahren hatte sie einmal eine Wüstensand-Therapie erleben dürfen. Nackt, mit
einem weißen Tuch umhüllt, wurde sie in Wüstensand eingebettet. Als erstes
spürte sie damals die Wärme die sie umgab und in ihren Körper eindrang. Und
dann, erinnert sie sich, fing sie an, sich leicht zu bewegen. Eigentlich keine
Bewegung, viel langsamer, viel sanfter, eher nur ein An- und Entspannen der
Muskeln. Sie fühlte damals neugierig dem
Rieseln nach, welches die kleinen Körnchen auf ihrem Körper verursachten und
wusste in diesem Moment, dass sie nie etwas Angenehmeres gespürt hat. Und bei diesen Gedanken waren die Schuhe schon
ausgezogen und die nackten Füße gruben sich im Sand des Strandcafés ein.
Auf der Strandpromenade
wuselten Menschen hin und her. Eine Frau trug in ihrer Hand etwas in Alufolie Eingepacktes
und sie dachte sich, dass sie wohl zu einem Picknick eingeladen wurde. Viel
später kam dieselbe Frau auf dem gleichen Weg wieder zurück, dass Päckchen
immer noch in der Hand und die Frage, was das Päckchen wohl denn jetzt enthält,
ließ ihr keine Ruhe mehr.
Sie sah aus dem
Blickwinkel, dass sich neben ihr Fahrrad ein Mann stellte und sie spürte gleich,
wie ihr Misstrauen wuchs. Warum steht er neben ihrem Fahrrad. Sie hat es
dummerweise nicht angeschlossen. Will er es klauen oder hat er es nur auf den
Inhalt ihrer Satteltasche abgesehen. Unruhig beobachtete sie ihn bis zu dem
Moment, als eine Frau ihm entgegen kam und sie sich freundschaftlich umarmten
um dann ebenfalls an einem Tisch Platz zu nehmen. „Okay“ dachte sie und belächelte wieder einmal
innerlich ihre Gedanken.
Am Nebentisch hörte sie,
dass die Krankenkasse die Kosten für einen Rollstuhl nicht übernehmen wollte. „Das
kann doch nicht wahr sein“, dachte sie nur und schon war sie vertieft in dem
Gespräch der beiden älteren Damen. Sie erfuhr noch so allerhand wichtige und
unwichtige Dinge aus dem Leben dieser Beiden, bis sie durch Kinderweinen
abgelenkt wurde.
Die Kleine wollte
unbedingt im Sand spielen, aber die Eltern erlaubten es nicht. Sie solle sitzen
bleiben und erst ihr Eis aufessen. Ein Gezerre an dem Tisch begann, die Eltern
bestanden auf ihren Standpunkt, die Kleine sah das aber ganz und gar nicht so.
Kinder, immer wieder geraten sie mit den Erwachsenen aneinander. Und warum?
Weil sie im Hier und Jetzt leben und nicht an das Morgen denken. Dass sich das
Eis nach einiger Zeit in einen Milchshake verwandelt weiß sie nicht und es
wird ihr auch wohl egal sein, viel wichtiger für sie ist jetzt, im Sand zu
sitzen. Will sie auf ihren Händen auch das Rieseln der Körnchen spüren?
Mittlerweile sind die
zwei älteren Damen verschwunden, ein Ehepaar nimmt nun Platz an deren Tisch.
Schon beim Hinsitzen nörgelt die Frau über den Sand unter Tisch und Stühlen.
Ihr Mann bestätigt sie in ihrer Meinung, in dem er ausführlich über die
Sinnlosigkeit dieser Art von Bodenbedeckung debattiert als gäbe es nichts
Wichtigeres für ihn.
Als auch noch die Preise
als viel zu überteuert bemängelt wurden war ihr klar, dass sie aufpassen muss.
Sie muss sich schützen vor dem negativen Karma, was diese Beiden umgibt. Sie
weiß, wie schnell sie so etwas wie ein trockener Schwamm aufsaugt und sie weiß
auch, wie schnell sie sich darin verlieren kann, wenn sie nicht Acht gibt auf
sich.
An ihrem eigenen Tisch
ist der Eisbecher ihres Mannes nun leer. Es tut ihr leid, dass sie sich für
dieses Café entschieden hat, nicht für sich, für ihren Mann. Er mag sonntags so
gern zum Kaffee ein gutes Stück Torte, am besten Buttercremetorte. Naja, er
kann es vertragen. Sie hingegen hat schon beim Aussprechen dieses Wortes 2
Pfund zugenommen, schon dann, wenn sie beim Buchstaben „C“ angekommen ist. Das
ihr Mann an so einem schönen Sonntag nun auf sein I-Tüpfelchen verzichten muss,
macht ihr Herz schwer und sie nimmt sich vor, bei einem der nächsten
Sonntagsausflüge darauf zu achten, ein richtiges Café auszusuchen, mit leckeren
Torten und eventuell fällt für sie auch noch ein richtig heißer Latte ab.
Das Kindergeschrei hat
endlich aufgehört. Irgendwie war ihr fast klar, dass die Kleine den Kampf für
sich entschieden hat und irgendwie freute sie sich innerlich tierisch für das
Mädchen. Aber eigentlich können die Eltern auch noch froh sein, dass ihre süße
Maus nicht schon den mit immer wiederholender Melodie singenden
Plüschtier-Automaten entdeckt hat.
Bei den sich vorhin
umarmenden Freunden hat sie mittlerweile erfahren, dass beide in Trennung
leben, nicht von sich, von jeweils anderen Partnern. Leidensgenossen sozusagen.
Sie tauschen sich aus, geben sich gegenseitig Halt, Rat und Mitgefühl. Gut,
dass sie sich gefunden haben, denkt sie. In solch schweren Zeiten ist es
wichtig, sich austauschen zu können. Es kann sein, dass sie später wieder
eigene Wege gehen, in ganz verschiedene Richtungen, aber jetzt sind sie für
einander da, das ist die Hauptsache.
Ein Handy klingelt
ununterbrochen und auch noch mit einem total nervigen Klingelton. Sie schaut
über die Tische und wundert sich, warum keiner an das Handy geht bis sie
begreift, dass das Handy einsam und verlassen auf einem der Tische liegt. Der
Besitzer ist wohl gerade im Café um seine Bestellung aufzugeben. Und da kommt er
auch schon wieder mit einer Flasche Bier und einem Glas auf dem Tablett. Und
sie denkt sich nur: „Wie kann man schon am Nachmittag mit Trinken anfangen?“
Innerlich stupst sie gleich ihre Gedanken schnell wieder auf Toleranz, denn sie
weiß, dass Alkohol ein großes Thema für sie ist und sie viel zu schnell
ungerecht dabei werden kann. Und sie hatte Recht mit ihrem Zurechtstupsen wie
sie später feststellt, alkoholfreies Bier hat er sich geholt und seiner
Kleidung nach zu urteilen, ist er nur ein Biker, der seinen Durst löschen will
und kein, wie sie es üblicherweise bezeichnen würde, Säufer.
Als er sich eine
Zigarette anzündet, kommt wieder unser Nörgelpärchen ins Spiel und, man konnte
ja schon darauf warten, sie beschwerten sich gemeinsam lautstark über den Qualm
und darüber, dass die Menschen heutzutage keine Rücksicht mehr nehmen würden.
An diesem Punkt fragt
sie sich nur noch, warum die Beiden denn keine Rücksicht nehmen können, denn
das Verhalten genau solcher Menschen ist für sie nämlich extrem gesundheitsgefährdend.
Und weiter fragt sie sich, warum die Beiden nicht einfach daheim geblieben sind
und ihr wird in diesem Augenblick klar, warum sie überhaupt noch rausgehen. Sie
brauchen ihre Dosis Nörgelinput, eindeutig, denn das macht ihre Gespräche wohl
größtenteils aus. „Achtung, aufpassen!“ denkt sie nur noch und richtet den
Blick bewusst wieder auf den See.
Der Stand der Sonne hat
inzwischen die Farben des Wassers verändert und der See sieht jetzt ganz anders
aus, dunklere Farben haben sich dazu gesellt und den hinteren Uferbereich hat
die Sonne jetzt komplett in leuchtendes Gold gehüllt.
Sie schaut ihren Mann
an. Gern möchte sie ihn fragen, was er so gerade denkt, aber sie kennt die
Antwort schon. Er würde wie immer sagen: „Nichts!“ Früher, in den Anfängen
ihrer Beziehung, wollte sie das nie glauben. Unbegreiflich war der Gedanke für
sie jedes Mal, dass es Menschen gibt, die wirklich in bestimmten Momenten an
Nichts denken können. In ihren rosaroten Windungen schwirren immer Gedanken wie
riesige Vogelschwärme umher.
Mittlerweile weiß sie
aber, dass sie manchmal anders ist, anders denkt und fühlt und sie beneidet
ihren Mann oft um dieses „Nichts“!
Er merkt jetzt, dass sie
ihn anschaut und fragt: „Na Schatz, was ist?“
„NICHTS!“ antwortet sie.
Er lächelt mit dem
Wissen im Kopf, dass bei der Heimfahrt im Auto sowieso alles, was sie erlebt hat,
aus ihr heraus sprudeln wird. Denn er weiß, dass ein NICHTS in ihren Gedanken nicht
existiert.