Donnerstag, 7. Februar 2019

die Kunst, von einer Schneeflocke zu lernen ...



Wochenlang war es nun schon ein Winter, wie er trüber nicht sein kann. Stumpf, farblos und nass. Kein einziger Sonnenstrahl konnte die Mauer aus Wolken, die einem Klumpen aus feuchtem Filz ähnelten, durchbrechen.

Und dann kam endlich das, was man im Allgemeinen als Winter bezeichnete. Es schneite dicke, flauschige Schneeflocken. Sie fielen sanft. Schlagartig wurde die Welt ein bisschen stiller, ein wenig ruhiger, etwas friedlicher. Ihre Chance spürend, kämpfte auch die Sonne sich nun sogleich durch die aufgerissene Wolkenfront.

Ich stand da, mit geschlossenen Augen und streckte mein Gesicht der Wärme entgegen.

Geduldig, mit einer mir unbekannten, seltsam anmutenden Gewissheit, dass mich jeden Augenblick eine Schneeflocke streicheln würde.
Wie ein unbedarftes Kind, voller Erwartung auf das kleine Weltenwunder.

An meinen Halswirbeln  spürte ich sofort, wie selten ich doch meinen Blick auch mal nach oben wandte. Zu oft, viel zu oft ziehen sorgenvolle Gedanken den Kopf nach unten.

Mir schoss plötzlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen wieder eine Textpassage  aus einem Lied meiner Jugend von Veronika Fischer durch meinen Kopf.

Die Textzeile lautete:  „ … käm ich auf die Stirn dir so schwer. Das die Wärme deiner Haut mich aufgetaut. Und ich fließ durch dein Gesicht, tränengleich und wie ein Spiegel klar …“

Und ich dachte nur so bei mir, dass jemand beim Schreiben dieses Textes bestimmt ebenso das Gesicht gen Himmel gestreckt hat um auf die erste Schneeflocke zu warten, die dann schwebend tänzelnd auf der Stirn ihren letzten Platz fand, ebenso, wie es gerade bei mir geschieht.

Das kleine kühle Nass ist zu spüren und die Stelle fühlt sich wie entspannt an. Es dauert gefühlt viele lange Sekunden, bis aus dem Schneeflausch ein kleiner Rinnsal entsteht, der sich seinen Weg durch mein Gesicht sucht.

Das tut gut. Ein schönes Gefühl, so voller Selbstvergessenheit. Als wenn die Welt schrumpft und nur noch die Schneeflocke und ich den Lebensfilm weiter drehen.

Ich spüre, dass ich diesen Moment für ewig festhalten möchte, diesen Augenblick immer und immer weiter spüren möchte. Alles in mir schreit nach „MEHR“.

Mir wird bewusst, dass das genau so ein Moment ist, an dem wir anfangen, auf die Suche zu gehen. Auf die Suche nach dem „MEHR davon“, weil wir ständig das Gefühl in uns spüren, nicht genug davon zu bekommen.

Und was machen wir? Wir suchen nach Lösungen, die uns Befriedigung verschaffen. Wir suchen nach Ersatzbefriedigungen, die uns wie eine Lösung erscheinen.

Wir schauen uns vielleicht um und suchen nach größeren, schöneren Schneeflocken. Wir rennen ihnen nach, wollen sie einfangen, vielleicht sogar ganz viele auf einmal.
Kann sein, dass wir sogar in Nachbars Garten schauen, ob es dort nicht eventuell bessere gibt.

Gut möglich, dass wir auch auf die Idee kommen, die Schneeflocken einzufrieren, um auch später noch ganz viel davon zu haben.  Auch könnte man ins nächstgelegene Einkaufscenter fahren, um nach Ersatz aus Plastik zu suchen.

Egal was es ist, wir strotzen nur so voller aktiver Regsamkeit, nur um diesen einen schönen Moment in uns zu spüren. Nur um das zu spüren, wonach es uns so sehr sehnt.

Über die, die eine schönere Schneeflocke haben als wir, fangen wir an zu nörgeln. Wir grübeln darüber nach, warum die und nicht wir und darüber, ob sie es überhaupt verdient hätten und warum sie es nicht verdient haben.

Und voller krankhaftem  Neid verpassen wir dadurch das nächste Schneeflöckchen, was auf unser Gesicht fallen möchte.

Schlimmer noch ist, dass wir vielleicht denken, dass wir gar keine Schneeflocken auf unserem Gesicht verdient haben oder aber, dass so eine Schneeflocke überhaupt kein Grund ist, so einen Aufstand zu machen, weil es viel wichtigere Dinge im Leben gibt.

Was für ein ermüdender Energieverlust, dieses Streben nach dem „MEHR davon“.

Und mir kommt in den Sinn, ob es nicht viel einfacher wäre ohne sinnlosem Aktivismus einfach den Moment zu genießen. Einfach darauf zu vertrauen, dass immer wieder mal so ein kleiner Augenblick kommen wird und man dann darauf vorbereitet ist, um ihn mit seiner vollen Lebensenergie zu genießen?

Noch wichtiger scheint es mir aber, so einem schönen Augenblick nicht nachzutrauern. Es geschieht, es geschah … etwas anderes wird von neuem geschehen.

Nicht danach suchen, sondern mit der Gewissheit, dass es kommt, darauf warten.
Nicht nach Besserem schauen, sondern diesen Moment als das Beste annehmen.
Nicht den Verlust beklagen wenn es vorbei ist, sondern dankbar sein für diesen Augenblick.


Also stehe ich da, empfange die Schneeflocken auf meinem Gesicht. Spüre mein „ICH“ und wie die Sorgenfalten meiner Stirn sich glätten. Genieße das kühlende Nass und jeden Millimeter, der mit Feuchtigkeit durchdringt wird. Genieße meinen ruhigen tiefen Atem.


Und schlagartig werde auch ich ein bisschen stiller, ein wenig ruhiger, etwas friedlicher …



wieder mal ein Bierdeckel ...