Wochenlang war es nun schon ein Winter, wie er trüber nicht sein kann. Stumpf, farblos und nass. Kein einziger Sonnenstrahl konnte die Mauer aus Wolken, die einem Klumpen aus feuchtem Filz ähnelten, durchbrechen.
Und
dann kam endlich das, was man im Allgemeinen als Winter bezeichnete. Es
schneite dicke, flauschige Schneeflocken. Sie fielen sanft. Schlagartig wurde
die Welt ein bisschen stiller, ein wenig ruhiger, etwas friedlicher. Ihre
Chance spürend, kämpfte auch die Sonne sich nun sogleich durch die aufgerissene
Wolkenfront.
Ich
stand da, mit geschlossenen Augen und streckte mein Gesicht der Wärme entgegen.
Geduldig,
mit einer mir unbekannten, seltsam anmutenden Gewissheit, dass mich jeden
Augenblick eine Schneeflocke streicheln würde.
Wie
ein unbedarftes Kind, voller Erwartung auf das kleine Weltenwunder.
An
meinen Halswirbeln spürte ich sofort,
wie selten ich doch meinen Blick auch mal nach oben wandte. Zu oft, viel zu oft
ziehen sorgenvolle Gedanken den Kopf nach unten.
Mir
schoss plötzlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen wieder eine Textpassage aus einem Lied meiner Jugend von Veronika
Fischer durch meinen Kopf.
Die
Textzeile lautete: „ … käm ich auf die
Stirn dir so schwer. Das die Wärme deiner Haut mich aufgetaut. Und ich fließ
durch dein Gesicht, tränengleich und wie ein Spiegel klar …“
Und ich dachte nur so bei mir, dass jemand beim Schreiben dieses Textes bestimmt ebenso das Gesicht gen Himmel gestreckt hat um auf die erste Schneeflocke zu warten, die dann schwebend tänzelnd auf der Stirn ihren letzten Platz fand, ebenso, wie es gerade bei mir geschieht.
Das
kleine kühle Nass ist zu spüren und die Stelle fühlt sich wie entspannt an. Es
dauert gefühlt viele lange Sekunden, bis aus dem Schneeflausch ein kleiner
Rinnsal entsteht, der sich seinen Weg durch mein Gesicht sucht.
Das
tut gut. Ein schönes Gefühl, so voller Selbstvergessenheit. Als wenn die Welt
schrumpft und nur noch die Schneeflocke und ich den Lebensfilm weiter drehen.
Ich
spüre, dass ich diesen Moment für ewig festhalten möchte, diesen Augenblick
immer und immer weiter spüren möchte. Alles in mir schreit nach „MEHR“.
Mir
wird bewusst, dass das genau so ein Moment ist, an dem wir anfangen, auf die
Suche zu gehen. Auf die Suche nach dem „MEHR davon“, weil wir ständig das
Gefühl in uns spüren, nicht genug davon zu bekommen.
Und
was machen wir? Wir suchen nach Lösungen, die uns Befriedigung verschaffen. Wir suchen nach Ersatzbefriedigungen, die uns wie eine Lösung erscheinen.
Wir
schauen uns vielleicht um und suchen nach größeren, schöneren Schneeflocken.
Wir rennen ihnen nach, wollen sie einfangen, vielleicht sogar ganz viele auf
einmal.
Kann
sein, dass wir sogar in Nachbars Garten schauen, ob es dort nicht eventuell
bessere gibt.
Gut
möglich, dass wir auch auf die Idee kommen, die Schneeflocken einzufrieren, um
auch später noch ganz viel davon zu haben.
Auch könnte man ins nächstgelegene Einkaufscenter fahren, um nach Ersatz
aus Plastik zu suchen.
Egal
was es ist, wir strotzen nur so voller aktiver Regsamkeit, nur um diesen einen
schönen Moment in uns zu spüren. Nur um das zu spüren, wonach es uns so sehr sehnt.
Über
die, die eine schönere Schneeflocke haben als wir, fangen wir an zu nörgeln.
Wir grübeln darüber nach, warum die und nicht wir und darüber, ob sie es
überhaupt verdient hätten und warum sie es nicht verdient haben.
Und
voller krankhaftem Neid verpassen wir
dadurch das nächste Schneeflöckchen, was auf unser Gesicht fallen möchte.
Schlimmer
noch ist, dass wir vielleicht denken, dass wir gar keine Schneeflocken auf
unserem Gesicht verdient haben oder aber, dass so eine Schneeflocke überhaupt
kein Grund ist, so einen Aufstand zu machen, weil es viel wichtigere Dinge im
Leben gibt.
Was
für ein ermüdender Energieverlust, dieses Streben nach dem „MEHR davon“.
Und
mir kommt in den Sinn, ob es nicht viel einfacher wäre ohne sinnlosem
Aktivismus einfach den Moment zu genießen. Einfach darauf zu vertrauen, dass
immer wieder mal so ein kleiner Augenblick kommen wird und man dann darauf
vorbereitet ist, um ihn mit seiner vollen Lebensenergie zu genießen?
Noch
wichtiger scheint es mir aber, so einem schönen Augenblick nicht nachzutrauern.
Es geschieht, es geschah … etwas anderes wird von neuem geschehen.
Nicht
danach suchen, sondern mit der Gewissheit, dass es kommt, darauf warten.
Nicht
nach Besserem schauen, sondern diesen Moment als das Beste annehmen.
Nicht
den Verlust beklagen wenn es vorbei ist, sondern dankbar sein für diesen
Augenblick.
Also
stehe ich da, empfange die Schneeflocken auf meinem Gesicht. Spüre mein „ICH“
und wie die Sorgenfalten meiner Stirn sich glätten. Genieße das kühlende Nass
und jeden Millimeter, der mit Feuchtigkeit durchdringt wird. Genieße meinen
ruhigen tiefen Atem.
Und
schlagartig werde auch ich ein bisschen stiller, ein wenig ruhiger, etwas
friedlicher …